- Renaissance: Skulpturen nach der Natur
- Renaissance: Skulpturen nach der NaturNach gängiger Auffassung gilt die Renaissance auch heute noch als eine Wiedergeburt der Kunst aus dem Geist der Antike. Dabei wird übersehen, dass die Überlieferung der antiken Kunst in Italien das ganze Mittelalter hindurch wirksam blieb. So finden sich etwa während des 13. und 14. Jahrhunderts - man denke nur an Nicola Pisanos Reliefs für die Kanzel des Baptisteriums in Pisa - mehr Kopien antiker Skulpturen als in der darauf folgenden Zeit der Frührenaissance. Dem Verständnis des Zeitalters kommt man wesentlich näher, wenn man mit Jacob Burckhardt als entscheidende Triebfeder die »Entdeckung der Welt und des Menschen« sieht. Schon Giorgio Vasari bezeichnete in seinen erstmals 1550 erschienenen Künstlerbiographien die »rinascità« als Wiedergeburt der guten, im Gegensatz zum Mittelalter an der Natur orientierten Kunst.In den Kreis der sich erneuernden Künste traten die verschiedenen Gattungen allerdings mit einer auffallenden Phasenverschiebung ein: Während sich die Plastik schon 1401 mit dem Wettbewerb um die Ausführung der zweiten Bronzetür des Florentiner Baptisteriums von den gotischen Traditionen löste, folgten Architektur und Malerei erst in einem Abstand von rund zwei Jahrzehnten. Die Erklärung für dieses Phänomen ist im unterschiedlichen Realitätsgrad der einzelnen Gattungen zu suchen. Da die Skulptur, besonders die Statue, den von ihr verbildlichten Gegenstand als dreidimensionales Bildwerk sehr unmittelbar wiedergibt, war in einem Zeitalter wie der Renaissance, deren Kunst den Menschen und seine diesseitige Umgebung neu entdeckte, der zeitliche Vorrang der Skulptur nur folgerichtig. Doch auch in der Anzahl herausragender, in ihrem künstlerischen Temperament völlig verschiedenartiger Meister übertraf die Skulptur des Quattrocento ihre Schwesterkünste um ein Vielfaches.Aufbauend auf den Schöpfungen der Vorgängergeneration, die zu Unrecht in den Schatten der Leistungen des frühen 15. Jahrhunderts zurückgetreten ist, nahmen die Bildhauer der beginnenden Renaissance die verschiedensten zukunftweisenden Aufgaben in Angriff. Unbestrittenes Zentrum war zunächst Florenz, dessen reiche Kaufleute und Bankiers in Handel, Gewerbe und Geldverkehr den ersten Platz in Europa behaupteten; unter der Herrschaft der ersten Medici war die Stadt am Arno zudem eine Hochburg des Humanismus. Dort arbeiteten zwischen 1410 und 1420 vor allem Lorenzo Ghiberti, Nanni di Banco und Donatello im Auftrag der Zünfte an den Statuen der Zunftpatrone für die Nischen der Kirche Or San Michele. Während Ghiberti zunächst noch der »Internationalen Gotik« verpflichtet blieb, erweckten Nanni di Banco und Donatello die ponderierte Standfigur der Antike - also die nach Stand- und Spielbeinseite in ihrem gesamten anatomischen Aufbau unterschiedene Statue - zu neuem Leben. An antike Vorbilder, die sich aber in keinem einzigen Fall nachweisen lassen, erinnert zudem die togaartige Gewandung ihrer Figuren.Eine Fülle von Aktivitäten entfaltete in diesen Jahren auch die Florentiner Dombauhütte. Für die Domfassade entstanden von 1408 bis 1416 die überlebensgroßen Sitzfiguren der vier Evangelisten. Ihre beiden bedeutendsten - der »Lukas« von Nanni di Banco und der »Johannes« von Donatello - bildeten Prototypen für die monumentale thronende Gestalt und wirkten als solche über den »Moses«, den Michelangelo 1513 für das Grabmal Papst Julius' II. begann, bis weit in den Barock hinein fort. Für einen nicht sicher bestimmbaren Standort meißelte Donatello zwischen 1408 und 1415 aus Marmor den jugendlichen »David«, der durch das eng anliegende Gewand und die weite Öffnung des Mantels vor der Beinpartie nahezu als Aktfigur erscheint; zwei Jahrzehnte später modellierte derselbe Künstler dann mit seinem »David« aus Bronze die erste reine Aktfigur der Neuzeit. Darüber hinaus erteilte die Dombauhütte zwischen 1420 und 1433 die Aufträge für die acht mehr als lebensgroßen Prophetenstatuen für die Nischen des Campanile, die überwiegend von Donatello und seinen Mitarbeitern ausgeführt wurden. Überraschenderweise galt bei diesen Arbeiten Donatellos hauptsächliches Interesse nicht mehr der genauen Durcharbeitung des menschlichen Körpers; vielmehr maß er nun den stark aufgewühlten, durch Richtungskontraste dramatisch aufgeladenen Gewändern der Figuren eine gleichberechtigte Rolle zu. Mit der für den Dom geschaffenen Sängerkanzel (1432-38) oder der um 1460 vollendeten Bronzegruppe von Judith und Holofernes stieß Donatello dann bis an die Grenze zur Verformung des Naturvorbilds vor.Neben Donatellos Schöpfungen stehen ebenbürtig die Werke seiner Zeitgenossen. Als Meilenstein in der Geschichte der europäischen Skulptur darf Nanni di Bancos vielfiguriges Relief der Gürtelspende Mariens an den heiligen Thomas (1414-21) bezeichnet werden, das sich im Giebel über der Porta della Mandorla des Florentiner Doms befindet: Nanni beherrscht hier nicht nur den anatomischen Aufbau der kompliziert bewegten Engel, sondern überwindet auch den Eindruck des statisch Fixierten, da die Figuren »emporzuschweben« scheinen. Mit dieser Suggestion wies er auf den Manierismus voraus, der hundert Jahre später die Veranschaulichung von Bewegung zu einem bevorzugten Gestaltungsthema erheben sollte.Ebenfalls in den ersten beiden Jahrzehnten des 15. Jahrhunderts schuf Ghiberti, der 1401 die Konkurrenz für sich entschieden hatte, die zweite Bronzetür für das Baptisterium in Florenz (1403-24). Während der langen Arbeitszeit entwickelte er einen Reliefstil, der den Raum stetig zur Tiefe hin erweitert: Den fast freiplastisch modellierten Figuren des Vordergrunds steht eine allmähliche Abstufung des Volumens bis zum Flachrelief im Hintergrund gegenüber. Die zeitlich unmittelbar folgende »Paradiestür« (1425-52), das dritte Bronzeportal am Baptisterium, nahm dann durch die meisterhafte Beherrschung der Perspektive in Architektur- und Landschaftsdarstellungen in ihren zehn großen Tafeln einen geradezu bildhaften Charakter an. Ghiberti begründete in diesem »Mischstil« aus Plastik und Malerei eine Kategorie des Reliefs, die diese Gattung unabhängig von stilistischen Wandlungen und kunstlandschaftlichen Sonderentwicklungen bis zum süddeutschen Spätbarock des 18. Jahrhunderts - etwa den Reliefs im Wölbungsansatz der Klosterkirche in Weltenburg von Egid Quirin Asam - bestimmen sollte.Außerhalb von Florenz leistete lediglich Siena mit Iacopo della Quercia einen entscheidenden Beitrag zur Entwicklung der Skulptur der Frührenaissance. In seinen Reliefs, vor allem den alttestamentlichen Szenen im Gewände des Hauptportals von San Petronio in Bologna (1427-32), verband Iacopo unter Verzicht auf alles landschaftliche und architektonische Beiwerk den Rhythmus melodischer Linienschwünge mit der Leidenschaft für die Darstellung herkulisch modellierter, in ihren Körperformen genau beobachteter Aktfiguren. Von hier gingen lebhafte Impulse auf Michelangelo aus, besonders für die Ausmalung der Decke der Sixtinischen Kapelle.Als gegen die Mitte des 15. Jahrhunderts die monumentalen zyklischen Aufträge in Florenz abnahmen, wanderten zahlreiche Bildhauer und Maler in andere Kunstlandschaften aus und verbreiteten dort das Formengut der Frührenaissance. Besonders folgenreich war Donatellos rund zehnjähriger Aufenthalt in Padua, wo er den Hochaltar für die Kirche Sant'Antonio, vor allem aber das Reiterstandbild des venezianischen Söldnerführers Erasmo de' Narni, genannt Gattamelata, ausführte. Donatellos Denkmal ist zwar frei auf dem Platz vor Sant'Antonio aufgestellt; wie alle Statuen des frühen 15. Jahrhunderts, die wie die gesamte mittelalterliche Plastik an Architektur gebunden waren, da man sie in ein Gewände, in eine Nische oder vor eine Wand stellte, ist es jedoch noch auf eine einzige Hauptansicht hin ausgerichtet - es »funktioniert« ausschließlich in der strengen Seitenansicht.Die Skulptur aus dieser Einansichtigkeit zu befreien, war die herausragende Leistung der italienischen Bildhauerei des letzten Drittels des 15. Jahrhunderts: Der »David« aus Bronze, den ihr bedeutendster Repräsentant, der Bildhauer und Maler Andrea del Verrocchio, um 1475 schuf, bewegt sich - im Gegensatz zur vier Jahrzehnte älteren Figur Donatellos - frei im Raum und bietet eine Fülle reizvoller Schrägansichten. Über die Hauptansicht konnte man sich bis zum heutigen Tag nicht einigen - weil es diese eine Hauptansicht gar nicht gibt! Entsprechende Unterschiede kennzeichnen auch Verrocchios Reiterstandbild des venezianischen Generals Bartolomeo Colleoni auf der Piazza San Giovanni e Paolo in Venedig (1479/80-1488) und Donatellos »Gattamelata«. Verrocchios Werk macht Bewegung anschaulich, sein Feldherr scheint wie über eine Brücke hinwegzureiten. Da es weder in einem bestimmten Augenblick festgehalten noch in einer bestimmten Stellung fixiert noch auf eine bestimmte Ansicht hin entworfen ist, ist dieses Reiterstandbild das erste wirklich für eine freie Aufstellung konzipierte Denkmal der Neuzeit.In genialer Weise überwand Verrocchios Christus-Thomas-Gruppe an Or San Michele in Florenz (1466-83) scheinbar unüberwindliche Schwierigkeiten: In die Nische, die zwischen 1420 und 1425 für eine Einzelfigur, den von Donatello geschaffenen heiligen »Ludwig von Toulouse«, ausgeführt worden war, hatte Verrocchio eine Gruppe von zwei überlebensgroßen Bronzestatuen einzufügen. Er erweiterte hierfür die »Bühne« nach vorn, indem er die jugendliche Gestalt des Apostels vor der seitlichen Rahmung des Tabernakels anordnete: An die Stelle des von der Nischenarchitektur begrenzten Raums tritt der durch die Figuren und deren Bewegung definierte Aktionsraum. Beide »Akteure« werden nicht statisch neben- beziehungsweise voreinander gestellt, sondern Thomas dreht sich in einer spontanen Wendung um die eigene Körperachse dem Inneren der Nische zu. Die Gruppierung entwickelt sich zu einer Szene, in die der Betrachter unmittelbar einbezogen wird, da Thomas vor der Architektur steht. Trotz der Drehung und des reichen Gewandes des Apostels zeigt sich in der Darstellung seines Körpers eine Perfektion, die ohne Studien am lebenden Modell nicht denkbar ist.Die Lösung der Figur aus der Einansichtigkeit war offenbar um 1470 ein künstlerisches Problem, das »in der Luft« lag: Antonio del Pollaiuolo lieferte hervorragende Antworten mit Kleinbronzen, die sich in dieser Zeit zu einer eigenen Gattung verselbstständigten und bald zum begehrten fürstlichen Sammelobjekt avancierten. Nördlich der Alpen veranschaulichen etwa die rahmenden Figuren der heiligen Georg und Florian an Michael Pachers Hochaltar in Sankt Wolfgang (1475-81) oder die Mauriskentänzer von Erasmus Grasser (1480) in München dieselben Tendenzen. Gegen Ende des Jahrhunderts wurde die Beobachtung und Erforschung des Details zu neuer Geschlossenheit zusammengefasst. Das Spätwerk Benedettos da Maiano kennzeichnet freie Beweglichkeit im Raum und kraftvolle Modellierung des Körpers. Darin weist Benedetto unmittelbar auf Michelangelo voraus, dessen entscheidendes bildhauerisches Vorbild er gewesen sein dürfte.Michelangelo vollendete, vor allem in seinem Frühwerk, alle vorangegangenen Bemühungen um die perfekte Darstellung des menschlichen Körpers in seiner natürlichen Erscheinung. Seine 4,34 m hohe Marmorstatue des jugendlichen »David« (1501-04) verbindet Naturstudium und antikisierende Gesinnung, Realität und Idealität, Modell und Typus, Detail und Geschlossenheit in bisher nicht erreichter Vollkommenheit. Nie wieder sind sich Antike und Neuzeit so nahe gekommen. Ähnliches gilt für das Relief des Kentaurenkampfes, eines der vollkommensten Werke Michelangelos. Thematisierte Bewegung wird hier durch Zentralisierung, Vertikalachsen und Füllung der Ecken, die den Rahmen bestätigen, gebändigt. Der unbekleidete menschliche Körper wird in allen Stellungen und Wendungen detailliert wiedergegeben. Michelangelo hat hierfür zweifellos antike Schlachtensarkophage studiert, aber deren Anregungen in voller Freiheit verarbeitet.So vollendete sich bei der Skulptur innerhalb eines Jahrhunderts die Naturbeobachtung. Die folgenden Generationen wandten sich auf dieser Grundlage neuen gestalterischen Aufgaben zu, vor allem der Veranschaulichung von Bewegung und dem Problem der Allansichtigkeit. Michelangelo selbst hat diesen Weg noch eröffnet: Sein »Sieger«, sicher ein Werk der beginnenden Spätzeit, scheint durch die Kühnheit seiner Drehung zum Umschreiten aufzufordern. Tatsächlich aber sind alle Ansichtsseiten in der Frontalität zusammengefasst - ein kühner Vorklang des »synthetischen Kubismus« des 20. Jahrhunderts.Prof. Dr. Manfred WundramDie Kunst der italienischen Renaissance. Architektur, Skulptur, Malerei, Zeichnung, herausgegeben von Rolf Toman. 1994.PoesKöln chke, Joachim u. a.: Die Skulptur der Renaissance in Italien.2 Bände. München 1990—92.
Universal-Lexikon. 2012.